Oper auf Nebenstraßen
An einem gewissen Punkt ihrer Laufbahn als Hörer von Opernmusik fällt diesen Enthusiasten die Tatsache auf, dass ihre Kenntnis dieser 400 Jahre alten Kunstgattung mit dem vergleichbar ist, was man über die Tiefen des Ozeans erfahren kann, wenn man Schaumkronen durch ein Teleskop betrachtet. Die Zaghaften entscheiden sich nun dafür, das Gerücht zu akzeptieren, das von den führenden Opernhäusern verbreitet wird, dass nämlich das lebensfähige Repertoire aus ungefähr zwei Dutzend Meisterwerken bestehe – zumeist von Mozart, Wagner, Verdi und Puccini komponiert. Doch ein paar Furchtlose tauchen nach versunkenen Schätzen und sind nie glücklicher, als wenn zufällig auf eine Aufführung von Adalbert Gyrowetz‘ Hans Sachs oder von Alexander Dargomischskys Steinernem Gast stoßen. Sie sind auch immun gegen den Einwand, dass jener Stoff erfolgreicher von Wagner behandelt worden sei und dass die Don Juan-Legende in wirklich adäquater Weise von Mozart – lange vor Dargomischkys Geburt – komponiert wurde. Die wirklichen Opernnarren kennen nicht nur das Beste, das die Kunst zu bieten hat, sondern sie sind gelegentlich sogar versessen darauf, deutlich Schlechteres kennenzulernen.
Irgendwo zwischen diesen extremen Qualitätsunterschieden liegen Tausende von Opern, die wenige von uns überhaupt, und wenn, nur dem Namen nach, kennen. Von Zeit zu Zeit gibt es Menschen – IntendantInnen, RegisseurInnen, DirigentInnen usw. -, die völlig in Vergessenheit geratene Werke „exhumieren“, etwa in der Absicht, das Repertoire von Minderheitskulturen zu erkunden. So gab es vor etlichen Jahren in Detroit Aufführungen von Armen Tigranians Anoush, einer Oper aus dem Jahr 1912: ein nationales Monument, deren es so viele gibt. Mit Anoush wird traditionellerweise die Opernsaison in der armenischen Hauptstadt Yerewan eröffnet.
Natürlich kennen wir alle einige dieser „Nationalmonumente“, die zur „Spitzenklasse“ zählen, z.B. Webers Freischütz oder Glinkas Leben für den Zaren, die in Deutschland bzw. Russland fast mythischen Status haben, aber außerhalb ihrer Heimatländer weniger Beachtung finden. Dem Namen nach sind uns Polens Halka von Stanisław Moniuszko, Spaniens La vida breve von Manuel de Falla oder Goyescas von Enrique Granados, Tschechiens Dalibor und Libussa von Bedrich Smetana u.dgl. bekannt. Sie alle liegen jedoch außerhalb der deutsch-italienisch-französischen „Festungsmauern“ und durchrechen diese nur fallweise.
Aber wonach der Operntaucher wirklich ‚giert‘, ist ein sogar noch versunkeneres Repertoire. Gibt es irgendwo eine schottische Community, die eine Produktion von Erik Chisholms Simoon oder Hamish MacCunns Diarmid unterstützen würde? Würden Polen sich für Ignaz Paderewskis Manru oder Karol Szymanowskis König Roger einsetzen? Walisische Opernfans für Arwel Hughes‘ Menna? Warum sollten Schweizer PatriotInnen sich nur mit Rossinis Wilhelm Tell zufriedengeben und sich nicht auch an den komischen Opern von Hans Haug, Frank Martins Sturm oder Othmar Schoecks Meisterwerk Penthesilea erfreuen? Türken könnten die Wiederbelebung von Adnan Saygun s Ozsoy und Kerem begrüßen, Ukrainer würden außer sich vor Freude geraten, wenn die Opern von Nikolai Lissenko ins internationale Rampenlicht gerückt würden. Lissenko wurde von Rimsky-Korssakow und Taschaikowsky bewundert, aber die Verbreitung seiner Opern scheiterte an seinem Verbot, die Texte ins Russische zu übersetzen. Und die Letten würden vielleicht für Alfred Kalninš‘ Banuta auf die Barrikaden steigen …
Gibt es genügend Brasilianer, die eine Aufführung von Carlos Gomes‘ O Guarani oder Maria Tudor unterstützen würden? Genügend Rumänen, um Raoul Gunsbourgs Iwan der Schreckliche wiedererstehen zu lassen? Um noch einmal auf Adalbert Gyrowetz zu sprechen zu kommen: Sein Finto Stanislao beruhte auf einem Libretto, das Verdi 22 Jahre danach für seinen Giorno di regno ebenfalls verwendete.
Die Tschechen hämmern dank Smetana, Dvořák und Janáček ständig an die Tore des Standardrerpertoires, aber wie wär’s mit ihren durchaus beachtenswerten Landsleuten wie Zdeněk Fibich, zu dessen von Insidern geschätzten Werken Šarka und Die Braut von Messina zählen, oder Josef Bohuslav Foerster oder Bohuslav Martinů? Würde der Tscheche oder die Tschechin vor Alois Hába zurückschrecken? Der in Mikrointervallen statt in den traditionellen Halbtonschritten komponierte? Seine Neue Erde ist noch konventionell komponiert, aber dann kam Die Mutter in Vierteltönen und Dein Reich komme in Sechstelintervallen. (Das könnte immerhin für SängerInnen mit Intonationsschwierigkeiten von Vorteil sein).
Die Musikwelt hat Bartók und Kodály bereits angenommen, aber Ungarn hat Ferenc Erkel noch ziemlich für sich. Sein Bánk Bán ist ein Aushängeschild und wird traditionellerweise an Nationalfeiertagen aufgeführt. Die Belgier haben Eugène Ysayes Violinmusik exportiert, aber seine Oper Pier li Houieu ist kein Exportschlager – vielleicht, weil der Text durchwegs in wallonischem Dialekt gehalten ist. Auch Jan Blockx‘ Herbergprinses hat die Landesgrenzen nur einmal überschritten, als Oscar Hammerstein das Werk an seiner Manhattan Opera aufführte.
Was den Dialekt betrifft, gelangen wir zu wirklichen Minderheiten: Bayern hat Carl Orffs Bernauerin, Bewohner des Languedoc Jean-Joseph de Mondonville, dessen Oper Daphnis et Alcimadure als „pastoralo Toulouzeno“ bezeichnet wird, und da gibt es noch Vom Fischer un syner Frau in Plattdeutsch vom Schweizer Othmar Schoeck. Und nicht zu vergessen: der Wiener Dialekt, den Richard Strauss in seinem Rosenkavalier verwendet.
Aber all das schöpft nur den Rahm der Oberfläche ab. Die Mexikaner haben Opern von Cenobio Paniagua und Melesio Morales, auf die sie zurückgreifen können. Die Argentinier haben Astor Piazolla und Alberto Ginastera; die Griechen haben Dionysios Lavrangas und Manolis Kalomiris, die Schweden Ivar Hallström, Kurt Atterberg, Ture Rangström und Karl-Birger Blomdahl (man erinnert sich vielleicht an Aniara, die erste Oper, die im Weltall spielt). Die Kroaten haben Vatroslav Lisinski (Liebe und Arglist), Ivan Zajc (Nikola Šubić Zrinjski) und Jakov Gotovac (Ero der Schelm), die Slowaken Eugen Suchoň (Krutňava) und die Esten Artur Lemba (Armastus ja surm und Elga).
Nicht vergessen darf man die irischen Meisterwerke, die zumeist nicht über die Landesgrenzen hinausgelangt sind: Michael William Balfes Zigeunerin oder – wesentlich jüngeren Datums – Robert O’Dwyers Eithne (1910) und Geoffrey Palmers Die Meerenge von Moyle (1923). Die Zigeunerin (The Bohemian Girl) wurde 1843 uraufgeführt und blieb fast ein Jahrhundert lang in England im Repertoire. 1951 gab es eine Wiederbelebung durch Sir Thomas Beecham in Covent Garden, aber aus irgendeinem Grund folgten die internationalen Opernhäuser diesem Beispiel nicht nach. Sir Charles Villiers Stanford schrieb zehn Opern, z.B. Shamus O’Brien. Vielleicht ist der Eintrag über Sir Henry Wood, den Begründer der Proms in der Royal Albert Hall in London, in einem englischen Musiklexikon charakteristisch in Bezug auf Stanford: „Henry Wood dirigierte Stanfords Shamus O’Brien im Jahre 1896, und danach beschränkte er seine Tätigkeit auf Konzerte.“
LEBENSDATEN DER ERWÄHNTEN KOMPONISTEN
Atterberg, Kurt: 1887-1974
Balfe, Michael William: 1808-70
Blockx, Jan: 1851-1912
Blomdahl, Karl-Birger: 1916-68
Dargomischsky, Alexander: 1813-69
De Falla, Manuel: 1876-1946
Erkel, Ferenc: 1810-93
Fibich, Zdenĕk: 1850-1900
Foerster, Josef Bohuslav: 1869-1951
Ginastera, Alberto: 1916-83
Gomes, Carlos: 1836-96
Gotovac, Jakov: 1895-1982
Granados, Enrique: 1867-1916
Gunsbourg, Raoul: 1860-1955
Gyrowetz, Adalbert: 1763-1850
Hába, Alois: 1893-1973
Hallström, Ivar: 1826-1901
Kalninš, Alfred: 1879-1954
Kalomiris, Manolis: 1883-1962
Lavrangas, Dionysios: 1860-1941
Lemba, Artur: 1885-1963
Lisinski, Vatroslav: 1819-54
Lissenko, Nikolai: 1842-1912
MacCunn, Hamish: 1868-1916
Martin, Frank: 1890-1974
Martinů, Bohuslav: 1890-1959
Mondonville, Jean-Joseph: 1711-72
Moniuszko, Stanisław: 1819-72
Morales, Melesio: 1838-1908
O’Dwyer, Robert: 1862-1940
Paderewski, Ignaz: 1860-1941
Palmer, Geoffrey: 1882-1957
Paniagua, Cenobio: 1821-82
Rangström, Ture: 1884-1947
Schoeck, Othmar: 1886-1957
Stanford, Sir Charles Villiers: 1852-1924
Suchoň, Eugen: 1908-93
Szymanowski, Karol: 1882-1937
Tigranian, Armen: 1879-1950
Ysaye, Eugène: 1858-1931
Zajc, Ivan: 1832-1914
Artikel aus der New York Times aus dem Jahr 1981, frei übersetzt von Alfred Marko